C. F. Schröer Eröffnungsrede DIE GANZE GROßE ZAHL, 5.9.-30.10.2014 in der neuen Galerie Gladbeck
Tanzbärs letzte Reise
Andrea Lehmanns „Wandermenagerie“ – eine Allegorie auf die Malerei
Der Herr ganz vorne im Bild hat offensichtlich keinen Navi. Wie der sich da in seinem bodenlagen Mantel samt Pelerine, Gehstock und Zylinder vor uns aufstellt und skeptisch frag end zu uns herüberblickt! Völlig verpeilt der vornehme Herr. Offenbar fehlt ihm auch sonst die Orientierung.
Da ist er doch glatt in eine Hochhaussiedlung hineingeraten und hat sein ziemlich aufgedonnertes Pferdegespann auf dem allerletzten Stück Acker zwischen die Wohnsilos kutschiert. Irgendwie scheint ihm seine Verirrung aber allmählich zu dämmern. Jetzt steht er wie angewurzelt da, sonderliche Gestalt, Gevatter Dingsda. Ist scheinst von ziemlich weit hergekommen und tritt hier würdevoll auf, als führe er den Staatszirkus an, oder als sei er eigens zur Pomp-Beerdigung von irgendeiner Wichtigkeit angereist. Doch hier findet rein gar nichts statt. Tristesse pur, der Himmel hängt voller Wolken und selbst das Unkraut steht ausgedörrt im Weg. Endstation Sehnsucht. Es geht aber auch keinen Meter weiter. Er ist ganz unten, am äußeren rechten Bildrand angekommen. Da hilft es auch nichts mehr, daß dieser schwarze Unzeitgenosse seinen hohen Zylinder zur feierlichen Begrüßung abgenommen hat, es ist ja niemand erschienen.
Der Herr ist offenbar Anführer eines denkbar merkwürdigen Trosses: Zwei prächtig aufgeputzte schwarze Gäule in Prunkgeschirr ziehen einen hoch aufragenden, doch verschlissenen Planwagen, der seine besten Tage längst hinter sich hat. Ein Leichenzug? Oder eher eine rollende Favela? oder doch eine Arche Noa auf Rädern? die Ankunft der Necromancer? oder etwa ein Schub Aussiedler aus Kleinnirgistan?
Was da unter dem spitzen Zeltdach hervorlugt, sieht alles andere als verheißungsvoll aus: Ein riesiger Braunbär steht da aufrecht auf seinen Hinterbeinen und blickt mit funkelnden roten Augen in die düstere Szenerie. Dicht bei ihm ein androgyner Typ, halb Junge, halb Mädchen, streng gescheitelt, weißes Hemd, Dreiteiler mit Kravatte, völlig erstarrt. Kein Wunder, daß der uns mit weit aufgerissenen Augen anglotzt. Wirklich kein Wunder. Der Bär fährt ihm mit seiner Pranke gerade durch das wohlfrisierte Haar, liebevoll vielleicht, aber so direkt möchte man nicht in dessen Haut stecken! Bei aller Tierliebe, der Bär sieht so aus, als könnte er die ganze Kalesche mit einem einzigen Hieb zerfetzen, und diese bindfadendünne Schnur zur Absicherung vor seinem Bauch ist doch nur ein schlechter Witz. Ob die überhaupt eine Genehmigung haben, hier zu parken? Und was sagt eigentlich das Ordnungsamt? und der Tierschutzverband? und wenn die hier noch lange so dumm rumstehen, tritt die PeTa auf den Plan.
Die Künstlerin, die gottseidank in der Nähe wohnt, ist so frei und gibt uns einen Hinweis auf den Trupp. Eine „Wandermenagerie“ soll es sein. Zumindest eine auf dem Anmarsch. Denn noch haben sie ihre Bude hier nicht aufgebaut, noch sind die Tiere für ihren Auftritt noch gar nicht in Stellung gebracht. Und ohne behördliche Erlaubnis wird das ja wohl auch nichts. Läßt sich schon ahnen, was die mit ihrer rollenden Tierbude im Schild führen. Den Bär wollen sie tanzen lassen und die Affen und Halbaffen noch dazu. Die hocken einstweilen noch auf den Pferden und blecken die Zähne. Verdammte Bande! So eine Art Abnormitätenkabinett und Freakshow soll das wohl werden. Am besten die ziehen gleich weiter, so wunderlich, so schön schwarz und gespenstisch der ganze Laden auch anzusehen ist.
Und dazu diese verdammten Krähen drum herum. Die Biester scheuen sich nicht mal, den Bären zu attackieren bis der noch wütend wird. Schon hat er eine von den schwarzen Vögeln erwischt. Sieht überhaupt alles bedrohlich aus, eher Horrorlandschaft als Neue Heimat. Hitchcock live oder die Müllippe von nebenan. Kaum zu sagen, was für ein Film hier abläuft, irgendwo vor oder nach dem letzten Inferno.
Mit der „Wandermenagerie“ zeigt uns Lehmann ein altes, abhanden gekommendes Vergnügen, eine derbe Volksbelustigung. Wandermenagerien zogen schon seit dem Mittelalter übers Land, um die mitgeführten Tiere den Bürgern der Marktflecken und Städte vorzuführen. Aber nicht der Belehrung und Tierkunde galt der Aufwand, sondern die Schaulust und Sensationsgier wollten bedient sein. Es ging um die Zurschaustellung des Befremdlichen und Gefährlichen, der Monströsität und Abormität, der Exotik. Das beliebteste Tier solcher fahrenden Schaubuden aber war der Tanzbär. Allein schon durch seine gewaltige Erscheinung war der Braunbär prädestiniert, zum Liebling des Publikums zu werden. Er war furchteinflößend und niedlich zugleich, tödlich und tapsig. Er konnte auf seinen Hinterbeinen laufen wie ein Mensch und sogar nach einer Musik tanzen. Das sah lustig genug aus, doch hatte man ihm das Tanzen auf heißen Blechen beigebracht. Doch wenn er in Rage geriet, konnte er schnell zum Ungeheuer und Monster. Das erhöhte den Kitzel.
Bei der Vorführung dieser Tiere wurde das Publikum auf eine populäre Weise mit einem Gefühl vertraut gemacht, das auch das Bretterbudentheater nutzte, um die Anteilnahme des gemeinen Volks zu gewinnen: das Schaurige. Gebannt und gerührt schaute man das Ungeheuer und saß oder stand doch in sicherer Entfernung auf seinem Platz. Später, im 18. Jahrhundert, hat man zuerst in England auf diesem ambivalenten Effekt eine schöne Theorie aufgebaut: The Sublime (im Deutschen nur unzureichend mit das Erhabene übersetzt). Der gebildete Bürger der modernen Welt blickt erstaunt und erschüttert die Gewalten der Natur, die Wasserfälle und Krokodile, in die Schluchten und Abgründe, die King Kongs und Giant Spider, aber stets bleibt er in sicherer Deckung hinter der Absperrung oder tief im samtroten Kinosessel.
Mit der „Wandermenagerie“ zeigt uns Lehmann eine zeitgenössische Allegorie auf die Malerei. Wie der prunkvoll aufgeschmückte Wagen ins Abseits kutschiert ist, so scheint die Lage der Malerei selbst: verfahren. Aufgedonnert wie ein Zirkuswagen kommt sie von weit her, schwer beladen mit allerhand sauberen Kunststücken und erprobten Sensationen, allerdings aus der Zeit gefallen, angereist zu ihrer eigenen Beerdigung. Doch hier, im Jetzt, schert sich schon niemand mehr um sie. Ein paar ausgetrocknete Halme stehen stacks am Wegesrand, eine Schar Krähen zerfleddert den gespenstischen Zug, bevor der überhaupt seine Schaubude aufschlagen kann. Kein Publikum nirgends. Das hockt wohl in den demprimierenden Wohnsilos im Hintergrund und glotzt TV oder vertreibt sich an der Xbox oder Playstation mit The Last Of Us und Co. die Langeweile. Aber Malerei?
Der Bärenführer aber tritt noch einmal würdevoll und Respekt erheischend in Erscheinung, wie es sich für einen großen Abschied schließlich gebührt. Doch was wird hier zu Grabe getragen? Der Tanzbär, ein paar lustige Äffchen und die ganze phantastischen Welt dazu, die längst ausgestorben oder gesetzlich verboten ist und deren letzte Überlebende wir hier sehen. Verirrt und abgehalftert, noch einmal den Glanz und Stolz früherer Tage präsentierend, die auf diesem Stoppelfeld verloren und bloß lächerlich wirken. Auf verlorenem Posten auch die Malerei. Die Perspektive hier täuscht zu Gunsten der Malerei. Denn in Wirklichkeit überragen die Wohnhochhäuser ringsrum in ihrer Nüchternheit und Anonymität den Zirkuswagen, und der Acker, auf dem der Tross zum Stehen gekommen ist, wird demnächst zum Bauplatz für ein paar weitere nagelneue Wohnsilos.
Alles das, diese Misere der fabelhaften Tiere und ihrer fahrenden Herrschaft, zeigt uns Lehmann in all der Pracht und verführerischen Herrlichkeit, die Malerei aufzubieten vermag. Ist die Malerei nicht selbst eine Art Wandermenagerie, ein „établissement de luxe et de curiosité“, wie die Encyclopédie Méthodique im 18. Jahrhundert definiert? Und sind Künstler nicht wandernde Schausteller, umherreisende Gaukler, moderne Nomaden, die ihre dressierten Tanzbären und Äffchen dem Publikum zum Vergnügen vorführen? Auch sie leben vom Spektakel und Spektakulären, vom Befremdlichen und Erstaunlichen. Auch ihre Kunststücke wirken wie aus der Welt gefallen, hoffnungslos anachronistisch und deplatziert.
Lehmann malt einen würdevollen, grandiosen Abgesang auf die Malerei. Bestattung 1. Klasse. In fahles Weltuntergangslicht taucht sie ihre bittere Abschiedsszene. Eine Tube Melancholie darf schon sein. Der Himmel hat sich eigens verfinstert, das Land liegt wüst und leer, die Wandermenagerie ist zu ihrem eigenen Begräbnis vorgefahren. Der Bär streichelt noch einmal liebevoll das Haar seines Mitfahrgesellen. Ein letzter Gruß aus einer anderen Welt. Nur die Malerei selbst triumphiert, wer denn noch Augen dafür hätte. Ganz unten am Bildrand hat die Künstlerin ein Foto in einem geschnitzten, ovalen Rahmen aufgestellt. Es ist ein Schwarz Weiß-Portrait, es zeigt die Malerin selbst, wie sie sich vor Schreck die Arme überkreuz vor die Brust wirft.
Carl Friedrich Schröer
August 2014